Dr. H. Shaw Warren gehört zu den Autoren einer neuen Studie, welche die Verwendung von Labormäusen als Modelle für alle menschlichen Krankheiten in Frage stellt.

Mäuse stellen seit Jahrzehnten die bevorzugte Art dar, um menschliche Krankheiten zu untersuchen. Inzwischen haben Forscher jedoch den Beweis erbracht, dass das Mäusemodell die Wissenschaftler bei mindestens drei tödlichen Erkrankungen völlig in die Irre geführt hat. Es handelt sich dabei um Blutvergiftung, Verbrennungen und Traumas. Sie bestätigen, dass jahrelange Forschungen und Milliarden von Dollars für Irrwege verschwendet wurden.

Die Schlussfolgerungen aus dieser Studie bedeuten nicht, dass Mäuse für alle menschlichen Krankheiten unbrauchbare Modelle sind. Die Autoren stellen ihren Nutzen aber bei Krankheiten stark in Frage, mit denen sie sich im Rahmen ihrer Arbeiten beschäftigten. Gemeint sind Erkrankungen des Immunsystems, insbesondere Krebs und Herzleiden. „Unser Artikel weist zumindest auf die Möglichkeit hin, dass eine Parallel-Situation besteht“, erklärt Dr. H. Shaw Warren, Forscher im Bereich der Blutvergiftung am Massachusetts General Hospital und einer der Hauptakteure der Studie.

Der am Montag in der Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences erschienene Artikel macht deutlich, warum an die 150 Medikamente gescheitert sind, die mit hohen Kosten an Patientinnen und Patienten getestet wurden, die unter Blutvergiftung litten. Die klinischen Versuche beruhten allesamt auf Studien, die an Mäusen durchgeführt wurden. Nun hat sich gezeigt, dass Mäuse Symptome aufweisen können, die einer Blutvergiftung bei Menschen ähnlich sind, sich aber tatsächlich stark von der menschlichen Erkrankung unterscheiden.

Wie medizinische Expertinnen und Experten, die nicht an der Studie teilnahmen, erklären, dürften diese Resultate den Kurs der weltweiten Erforschung einer tödlichen Erkrankung denen Ärzte oft machtlos gegenüberstehen ändern. Die Blutvergiftung tritt auf, wenn der Körper eine Infektion bekämpft. Davon sind in den Vereinigten Staaten jährlich 750’000 Patientinnen und Patienten betroffen. 25 bis 50% sterben daran. Diese Krankheit kostet den Staat jedes Jahr 17 Milliarden Dollar und stellt die häufigste Todesursache auf Intensivstationen dar.
„Diese Studie bringt die Spielregeln durcheinander“, erklärt Dr. Mitchell Fink, Experte für Blutvergiftung an der University of California in Los Angeles.
„Es ist kaum zu glauben“, stellt Dr. Richard Wenzel, ehemaliger Leiter der Abteilung für Innere Medizin an der Virginia Commonwealth University und ehemaliger Redaktor des New England Journal of Medicine, fest. „Die haben voll und ganz recht.“

Potenziell tödliche Abwehrkräfte treten auf, wenn das Immunsystem auf vermeintliche Gefahrensignale überreagiert. Dies können beispielsweise von Bakterien, Viren oder Pilzen produzierte toxische Moleküle oder von Zellen, die durch Traumata oder Verbrennungen geschädigt wurden, ausgeschiedene Proteine sein, erklärte Dr. Clifford S. Deutschman der die Forschungsarbeiten an der University of Pennsylvania leitet aber nicht an der Studie teilnahm.

Ein zu stark belastetes Immunsystem setzt seinerseits Proteine in so beträchtlichen Mengen frei, bis die Kapillare undicht werden. Durch das starke Rinnen entweicht das Serum den winzigen Blutgefässen. Der Arteriendruck fällt und die lebenswichtigen Organe werden nicht mehr ausreichend mit Blut versorgt. Trotz aller Bemühungen kann es dem Pflegepersonal der Intensivstationen oder der Notfallabteilungen nicht gelingen, den Blutverlust zu kompensieren und die Infektion oder den Gewebeschaden zu stoppen. Dies führt zu einem Multiorganversagen wichtiger Organe.

Diese neue Studie, die zehn Jahre dauerte und an der landesweit 39 Forscherinnen und Forscher beteiligt waren, begann mit einer Untersuchung weisser Blutkörperchen bei Hunderten von Patientinnen und Patienten, die unter starken Verbrennungen, Traumas oder Blutvergiftung litten. Dabei wurde bestimmt, welche Gene diese Zellen verwendeten, um solche Gefahrensignale zu bekämpfen.
Wie Ronald W. Davis, Genomik-Experte an der Universität Stanford und einer der Hauptautoren der Studie, erklärt, stellten die Forscherinnen und Forscher interessante Schemen fest und legten eine umfassende und sorgfältig erstellte Datensammlung an, die diesen Forschungsbereich bei seiner Entwicklung unterstützen sollte. Gewisse Schemen scheinen vorauszusagen, wer überleben kann und wer eine negative Prognose erhält und in der Folge oft stirbt.

Die Gruppe versuchte, ihre Entdeckungen in verschiedenen Zeitschriften zu veröffentlichen. Gemäss Dr. Davis gehörte zu den vorgebrachten Einwänden, die Forscherinnen und Forscher hätten nicht bewiesen, dass die Gene der Mäuse gleich reagierten.
„Sie waren so an Studien an Mäusen gewöhnt, dass sie diese für notwendig hielten, um Resultate zu validieren“, erwähnte er. „Sie sind so damit beschäftigt, Mäuse zu kurieren und vergessen dabei, dass das Endziel darin besteht, Menschen zu heilen».
„Also fragten wir uns, ob bei den Mäusen das gleiche Phänomen auftrat», stellt er abschliessend fest. Das Team beschloss deshalb, der Frage nachzugehen, und erwartete einige Ähnlichkeiten. Die Analyse der Daten zwang die Beteiligten aber zur Erkenntnis, dass es keine solchen Ähnlichkeiten gab. „Wir wurden von den Resultaten buchstäblich weggepustet“, erklärt Dr. Davis.

Es war offensichtlich, dass die Medikamente gescheitert waren. So wurde beispielsweise bei Mäusen ein Gen aktiviert während beim Menschen das vergleichbare Gen ausgeblendet wurde. Ein Medikament das bei Mäusen wirkte, indem es ein bestimmtes Gen ausschaltete, könnte bei Menschen zu tödlichen Reaktionen führen.

Noch überraschender war gemäss den Aussagen von Dr. Warren die Tatsache, dass die verschiedenen Leiden wie Verbrennungen, Traumas und Blutvergiftung bei den Mäusen nicht dem gleichen Schema entsprachen. Jedes Leiden betraf krankheitsspezifische Gene. Bei den Menschen treten hingegen in allen drei Fällen ähnliche Gene auf. Wenn die Forscherinnen und Forscher also ein effizientes Medikament entdecken, um eine dieser Krankheiten beim Menschen zu behandeln, könnte das Medikament alle drei heilen.

Die Forscherinnen und Forscher der Studie versuchten über ein Jahr lang, ihren Artikel über die fehlende Verbindung zwischen den Genen von Mäusen und Menschen zu publizieren. Sie wollten den Artikel in den Zeitschriften Science und Nature veröffentlichen und damit ein breites Publikum ansprechen, stiessen jedoch in beiden Fällen auf Ablehnung.
Science und Nature erklärten, ihre Charta sehe es nicht vor, die Ablehnung eines Artikels zu begründen oder den Erhalt von Artikeln zu bestätigen. Trotzdem wies Ginger Pinholster von der Zeitschrift Science darauf hin, ihr Magazin veröffentliche nur 7% der jährlich erhaltenen rund 13‘000 Artikel. Es komme häufig vor, dass ein Artikel die Selektion nicht übersteht.

Dr. Davis erklärt jedoch, die Mitglieder des Leseausschusses hätten keinerlei wissenschaftliche Fehler festgestellt. Seiner Ansicht nach „lautete die häufigste Antwort: ‹Sie müssen sich täuschen. Wir können nicht sagen, warum dies so ist. Sie müssen sich aber täuschen›.“
Schliesslich wandten sich die Autoren an die Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences. Als Mitglied dieser Akademie konnte Dr. Davis Gutachter vorschlagen. Er entschied sich für Forscher, die in der Lage waren, die Arbeiten auf völlig sachliche Weise zu evaluieren. „Wenn ihnen der Artikel nicht gefällt, möchte ich wissen, warum dies so ist“, erklärte er. Die Gutachter empfahlen die Publikation und der Redaktionsvorstand der Zeitschrift, der die Artikel selbständig prüft, erteilte seine Zustimmung.

Beim Lesen des Artikels sind gewisse Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angesichts der Daten heute genauso erstaunt wie die Autoren. „Als ich den Artikel zur Kenntnis nahm, war ich über die schlechten Resultate erstaunt, die sich bei den Mäusen ergaben“, erklärt Dr. Fink. „Die völlig mangelnde Korrelation ist absolut erstaunlich. Diese Daten sind so überzeugend und handfest, dass sie die für die Finanzierung zuständigen Organisationen sicherlich berücksichtigen werden. Bis anhin musste man Versuche an einem Mäusemodell vorschlagen, um auf eine Finanzierung hoffen zu können.“

« Um Blutvergiftungen zu verstehen, müssen Patientinnen und Patienten untersucht werden »

Eine Maus verträgt eine millionenfach höhere Bakterienbelastung in ihrem
Blut bevor sie daran stirbt, als die, die einen Menschen umbringen würde.

Ein wichtiges Indiz hätte die wissenschaftliche Gemeinschaft jederzeit daran zweifeln lassen müssen, dass Mäuse in diesem Bereich die Menschen nicht wirklich nachahmen können: Es ist sehr schwierig, eine Maus mittels einer Bakterieninfektion zu töten. Dazu ist ein Bakterienanteil im Blut erforderlich, der über eine Million Mal grösser ist als derjenige, der einen Menschen töten würde. „Mäuse können sich von Abfall und verdorbenen Lebensmitteln ernähren“, betonte Dr. Davis. „Wir können das nicht, wir sind zu empfindlich.»

Die Forscherinnen und Forscher erklärten, wenn sich die Widerstandsfähigkeit der Mäuse erklären lasse, so könnten sie diese Erkenntnis nutzen, um herauszufinden, wie Menschen ebenso widerstandsfähig gemacht werden können. „Diese Publikation ist von grundlegender Bedeutung“, erklärte Dr. Richard Hotchkiss, der sich an der University of Washington mit der Blutvergiftung befasst und nicht an der Studie teilnahm. «Das sind handfeste Argumente – interessieren Sie sich für die Patientinnen und Patienten. Entnehmen Sie ihre Zellen. Entnehmen Sie ihnen wenn möglich jedes Mal Gewebe. Entnehmen Sie Zellen der Atemwege.“
„Um Blutvergiftungen zu verstehen, müssen Patientinnen und Patienten untersucht werden“, betonte er.

 

In der „New York Times“ vom 11. Februar 2013 erschienener Artikel
http://www.nytimes.com/2013/02/12/science/testing-of-some-deadly-diseases-on-mice-mislead-report-says.html?nl=todaysheadlines&emc=edit_th_20130212&_r=2&