Fötales Kälberserum (FKS)* wird in der Schweiz sehr häufig eingesetzt, selbst in Labors, die ohne Tiere arbeiten. Beat Thalmann, Gründer des Unternehmens Scinora in Rafz (ZH), spricht im Interview über Alternativen.
Was bietet Ihr Unternehmen Scinora an?
Ich entwickle tierfreie Zellkultur-Komponenten und -Medien für die Forschung. Dabei ersetze ich die tierischen Bestandteile durch meine eigenen Produkte. Die meisten Proteine, die im Blut vorkommen, werden von der Leber produziert. Ich nutze deshalb eigens entwickelte menschliche Leberzelllinien, die diese Proteine produzieren. Diese Zelllinien wachsen frei in Suspension, ähnlich wie Hefezellen. Ich verwende ein Medium ohne tierische Inhaltsstoffe, um die Zellen am Leben zu erhalten. Ein ähnliches Verfahren wird etwa bei der Produktion von Impfstoffen oder von Antikörpern für Krebstherapien angewendet. Da Blut aber nicht nur aus den von der Leber produzierten Proteinen besteht, reichere ich das tierfreie Serum mit anderen entscheidenden Wachstumsfaktoren an. Das Endprodukt kann fötales Kälberserum ersetzen.
Was hat Sie zur Gründung des Unternehmens motiviert?
Ich habe für meine Doktorarbeit in einem kleinen Biotech-Unternehmen geforscht, das auf die Antikörperproduktion für Therapien spezialisiert war. Seit Ende der 1990er-Jahre wird in diesem Bereich der Biotechnologie kein oder fast kein FKS mehr verwendet. Der BSE-Skandal (Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, auch «Rinderwahnsinn» genannt) war damals der Hauptgrund dafür, dass fötales Kälberserum nur noch eingesetzt wurde, wenn es unbedingt nötig war. Ich war also von Anfang an gewohnt, ohne Serum zu arbeiten. Danach wechselte ich zur Ökotoxikologie, wo wieder wie früher alle Zelllinien mit FKS kultiviert wurden. Ich wollte das ändern und begann, erste Zelllinien an meine eigenen serumfreien Medien anzupassen. Schliesslich gelang es mir, glücklicherweise auch mit Leberzelllinien. Dafür muss man wissen, dass in der Toxikologie andere Produkte tierischer Herkunft verwendet werden, vor allem ein Präparat aus Rattenleber. Mit den serumfreien Leberzelllinien konnten wir aufzeigen, dass wir dieses tierische Produkt wirksam ersetzen können. So hat alles angefangen. Und nun setzt sich die Geschichte mit Scinora fort. Wir entwickeln das Unternehmen ohne Risikokapital weiter, weil wir früh erkannt haben, dass ein solches Nischenprodukt mit geringem Marktvolumen für Investoren uninteressant ist. Ich kämpfe deshalb Schritt für Schritt für den Ersatz des fötalen Kälberserums.
Wie kann ein Produkt wie Ihres breiter zugänglich gemacht werden?
Der Schlüssel zur Veränderung liegt bei den Wissenschaftler*innen. Wir müssen ihnen gute Gründe für einen Verzicht auf FKS liefern und sie mit wissenschaftlichen Argumenten überzeugen. Durch ethische Argumente allein lassen sie sich nicht oder kaum zu einer Veränderung motivieren. Sie arbeiten an ihren Dissertationen oder ihrer Postdoc-Forschung mit FKS und können dadurch viel publizieren.Warum sollten sie also etwas ändern? Das Gleiche gilt für die Professor*innen, und auch die Studierenden sind ein Schlüssel zur Veränderung. Sie müssen die wissenschaftliche Validierungsarbeit so oder so machen, ob mit meinen oder mit anderen Produkten. Wir müssen viel Zeit, Energie, Geld und Arbeit investieren, um eine solche Veränderung herbeizuführen. Wissenschaftler*innen brauchen zuverlässige wissenschaftliche Daten. Also müssen wir diese Daten bereitstellen, und das kann ich nicht allein. Ich kann dank meiner Kenntnisse Formulierungen für Nährmedien liefern und erklären, wie die Zellen sich verhalten, aber darüber hinaus brauchen wir ein Konsortium aus verschiedenen Personen, die zusammenarbeiten. Wir brauchen Wissenschaftler*innen, die in diesem Bereich etwas bewegen und eine Vorreiterrolle spielen möchten. Die Entwicklung kann am Anfang frustrierend sein, es wird nicht jedes Mal funktionieren. Das Endergebnis wird aber effizient und für alle verfügbar sein. Ich denke, dass man vor allem den wissenschaftlichen Nachwuchs und die Professor*innen dafür gewinnen muss, mit der nötigen Finanzierung gemeinsam an diesem Thema zu arbeiten. Das ist ein entscheidender Punkt.
Warum ist fötales Kälberserum (FKS) in den Labors so allgegenwärtig?
Weil es so leicht anzuwenden ist. Um ehrlich zu sein: Auch wir arbeiten aktuell mit Zellen, die noch von FKS profitiert haben. Diese Zellen wurden seit Jahrzehnten in Nährmedien mit
Rinderproteinen kultiviert und haben sich im Laufe der Zeit an die Bedingungen des Mediums angepasst. Es wäre deshalb schwierig, das Serum zu verändern und sofort die gleiche Effizienz zu erzielen. Man hat auch früher schon versucht, den Einsatz von FKS zu reduzieren oder es zu ersetzen. Die meisten Versuche scheiterten an den Kosten. Ohne politischen oder wirtschaftlichen Druck wird FKS nicht ersetzt.
Ist die Schweiz in der Lage, ausreichend ethisches Serum zu produzieren?
Ja, die Schweiz hat genug Kapazität dafür. Unternehmen in der Schweiz und weltweit könnten davon profitieren. Viele Schweizer Unternehmen stehen in Konkurrenz mit EU-Ländern. Die Schweiz ist gemeinsam mit Grossbritannien und den Niederlanden – zumindest auf europäischer Ebene – eine wichtige Drehscheibe für alternative, tierfreie Forschungsmethoden. Um unsere Ziele in diesem Bereich zu erreichen, müssen wir auf internationaler Ebene zusammenarbeiten, damit wir über die nötigen Kapazitäten, Finanzmittel und Fachpersonen verfügen.
"Wir importieren Tierleid aus dem Ausland."
Was können Sie mit Scinora in dieser Hinsicht unternehmen?
Im Moment ist meine wichtigste Aufgabe, andere zu überzeugen. Die Produkte sind da, jetzt muss ich sie vermarkten. Meine Kunden kommen hauptsächlich aus Nordeuropa und einige aus Deutschland. In der Schweiz habe ich zurzeit keine grösseren Kunden, aber das Potenzial ist gross. Wir müssen einfach zusammenarbeiten, denn viele Wissenschaftler*innen haben Probleme mit FKS. In der Schweiz wird kein fötales Kälberserum produziert und so sind wir in dieser globalisierten Welt stark auf Südafrika und die dortige Fleischproduktion, aber auch auf die USA und Australien angewiesen. Wir zahlen für ausländische Produkte. Wenn es uns mit einem wissenschaftlichen Konsortium gelingt, ein neues Open-Source-Produkt bereitzustellen, können wir dieses gestützt auf verlässliche wissenschaftliche Daten selbst produzieren und in die ganze Welt liefern. In der Schweiz ist die FKS-Produktion zu teuer. Ein Kalb produziert rund drei Liter Blut, das reicht nicht, um die Nachfrage zu decken. Unsere Tierschutzgesetze sind strenger als in anderen Ländern, also importieren wir Tierleid aus dem Ausland.
Tierversuchsfreie Forschungsmethoden können also nicht automatisch als ethisch bezeichnet werden?
Paradoxerweise müssen Alternativen zu Tierversuchen nicht zwingend tierfrei sein. Die in Europa übliche Definition von NAMs** besagt lediglich, dass Ersatzmethoden und -technologien für Tierversuche keine «intakten Tiere» nutzen dürfen. Das öffnet die Tür auch für Alternativen, die nicht unbedingt ethisch sind.
Gibt es neben Scinora noch andere Schweizer Wissenschaftler*innen, die bereits ohne FKS arbeiten?
Einige Forschungsgruppen arbeiten je nach Thema mit diesem Ansatz. Im Bereich der Organoide ist das Verhältnis etwa 50 : 50, weil die Forschenden beispielsweise bei aus Patientenmaterial abgeleiteten Xenotransplantaten kein FKS nutzen wollen. Das Kinderspital Zürich setzt auch kein FKS ein. Es ist also möglich. Mit induzierten pluripotenten Stammzellen kann man gute Resultate erzielen. Die Stammzellen entwickeln sich ohne FKS. Doch bei der Differenzierung*** der Zellen wird dann aus reiner Bequemlichkeit FKS hinzugefügt. Paradoxerweise sind Alternativen zu Tierversuchen nicht zwingend tierfrei.
"Paradoxerweise sind Alternativen zu
Tierversuchen nicht zwingend tierfrei."
Wie ich im Zusammenhang mit den biopharmazeutischen Unternehmen schon erwähnt habe, hat die Schweiz bewiesen, dass es möglich ist, auf FKS zu verzichten. Zurzeit arbeiten zwei andere Schweizer Unternehmen an serumfreien Medien. Ausserhalb der biopharmazeutischen oder der Stammzellen-Forschung ist es in den letzten Jahrzehnten jedoch nicht gelungen, eine grosse Zahl von Personen mit ethischen Argumenten zu überzeugen. Den Wissenschaftler*innen, die öffentliche Finanzmittel erhalten, fällt es aufgrund des Zeitdrucks und der aktuell dünnen Publikationslage schwer, auf Serum zu verzichten. Sie sind auf zitierfähige Ergebnisse angewiesen und für FKS sind ausreichend Daten vorhanden, auch wenn sie nicht reproduzierbar sind. Das aktuelle Publikationssystem führt also dazu, dass Wissenschaftler*innen in einer Art Blase gefangen sind. Selbst wenn die Daten, die wir ohne FKS generieren können, noch besser sind als die mit FKS erzielten Daten, haben sie für diese Forschenden wegen der dünnen Publikationslage wenig Wert. Damit ein wirksamer Wandel hin zur tierfreien Zellkultur gelingt, muss die Schweiz im Bereich der Finanzierung und der Hochschulen eine grössere Risikobereitschaft zeigen. Ich hätte da ein paar Ideen, aber das würde den Rahmen dieses Interviews sprengen.
Wie schätzen Sie die Entwicklung beim Einsatz von Tierversuchen ein?
In den nächsten zehn Jahren wird es wohl weiterhin Tierversuche geben. Aber die Frage ist: Mit welchen Tieren? Sprechen wir von Fischen, Schnecken, Affen? Versuche an Katzen, Hunden und Nagetieren sollten sicher aufhören. Und auch die Gesamtzahl der verwendeten Versuchstiere dürfte drastisch sinken. In den nächsten 20 Jahren wird man Tierversuche dank der Organoide immer weiter reduzieren oder sogar ersetzen können. Wir verfügen über das nötige Wissen und über die nötigen Daten aus früheren Tierversuchen und aus Studien mit Menschen, um In-silico-Modelle zu entwickeln. In Kombination mit Zellkulturen können sie Tierversuche ersetzen, sodass diese zumindest vermeidbar werden.
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Definitionen
* Gemäss dem französischen Verband Gircor ist FKS (fötales oder fetales Kälberserum), auch FCS (engl. fetal calf serum) oder FBS (engl. fetal bovine serum) genannt, ein Anteil des Blutes von Rinderföten. Wie bei jedem Blutserum handelt es sich um die überstehende Flüssigkeit, die man erhält, wenn man geronnenes Blut zentrifugiert.
** Die englische Abkürzung NAMs hat drei unterschiedliche Bedeutungen: New Approach Methodologies (neue methodische Ansätze), New Alternative Methods (neue Alternativmethoden) und Non-Animal Methods (tierfreie Methoden).
*** Die Differenzierung ist ein natürlicher Vorgang, bei dem eine wenig spezialisierte Stammzelle zu einer in Struktur und Funktion stärker spezialisierten Zelle reift. Gemäss dem Zentrum FC3R werden pro Jahr weltweit rund 700 000 Liter FKS als Nebenprodukt der Fleisch- und Milchindustrie aus dem Blut von insgesamt 1 bis 2 Millionen Rinderföten gewonnen. Zeigt sich beim Schlachten einer Kuh, dass diese trächtig ist, wird dem Fötus das Blut per Herzpunktion entnommen, was Leid verursacht.

